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Brief an einen Freund zum Schulbeginn

„WANDELT WIE KINDER DES LICHTES“
(Epheser V, 8)

Wir Eltern, Lehrer und Erzieher haben den Auftrag, die uns anvertrauten Kinderseelen zu jenem Licht zu führen, das ihr Leben und ihr Glück ausmachen wird. Jede Woche möchten wir Sie mit Zitaten von klugen Menschen und Zeitzeugen bekanntmachen, die unseren eigenen Weg erleuchten können. Sagte nicht der heilige Thomas von Aquin: „Schau nicht auf die Person, die redet, doch vertraue alles Gute, das Du hörst, Deinem Gedächtnis an.“ (aus den 16 Ratschlägen des heiligen Thomas von Aquin, „um den Schatz der Wissenschaft zu erlernen“). Viel Freude beim Lesen!

Glauben Sie mir: Sie sind derjenige, der beneidenswert ist. Und ich muss mich beherrschen, um nicht das alte Lied des „schönsten Berufs der Welt“ in einem ironischen Ton zu singen. Trotz der wiederkehrenden Routine sich aufeinanderfolgender Schulbeginne mit ihren schwerfälligen Bräuchen kann man nicht die Tatsache leugnen, dass das Unterrichtswesen etwas Großes ist – dessen Wichtigkeit man noch nicht vollständig ermessen hat in diesen unsicheren und komplizierten Tagen. Ob Ihnen diese Worte wohl Ihre Begeisterung der Anfänge zurückgeben werden? Nicht um der langatmigen Ansprache des Schulleiters zuzuhören… Nun gut. Das kann man nicht ändern. Doch übermorgen werden Sie dafür durch die Fragen des neuen, bebrillten Schülers, dessen Namen man noch nicht kennt, Ihre eigentliche Berufung zurückerlangen: nämlich den Weg zu zeigen.

Yves Stalloni (1944)
Literaturprofessor, Schriftsteller

„Und so sitzen Sie nun wieder einmal in dieser heißen Turnhalle, die zu diesem Anlass in einen Vortragssaal verwandelt wurde, und Sie hören zu, wie Ihr Rektor wie üblich von den Sommerferien erzählt und Anweisungen für den Schulbeginn gibt. Neben Ihnen sitzt der Mathelehrer, der sich einen Bart hat wachsen lassen; weiter rechts von Ihnen eine junge Englischlehrerin, die – ganz neu an ihrem Posten – skrupelhaft den Ausführungen des Rektors folgt. Sie selbst hören nur mit einem Ohr zu, weil Ihnen der Kollege Chauvet, ein alter Literaturfreund, Ihnen von seiner Expedition ins Massiv des Mont-Blanc erzählt. Morgen kommen die Schüler zurück und Sie werden sie zum zwölften oder zum fünfzehnten Mal oder ich weiß nicht zum wievielten Mal in Empfang nehmen. Papiere müssen ausgefüllt werden, der Stundenplan abgeschrieben, die Liste der Lehrer bekanntgegeben…alles Routine. Die Klasse wird da sein, eigenartig still und scheu, als ob dieser Moment wichtig wäre (obwohl es doch nur um banale Formalitäten geht), in einer steifen Respekthaltung, die im Kontrast steht zum Durcheinander, welches Ihre subtilen Analysen von Pascals Provinciales oder von Rimbauds Kühnheit in den Illuminations hervorrufen. Normal. Die ersten Schultage sind außergewöhnliche Tage. Es gibt noch keine Clans; die Hierarchie innerhalb der Klasse ist noch nicht etabliert; Bräuche noch nicht eingelebt. Doch von der kommenden Woche an wird das anders sein! Dieser Vortag des Schulbeginns und der Schulbeginn selbst wird Sie wieder einmal, auf vielleicht bittere Weise, dazu bewegen, über Ihren Beruf nachzudenken. Literatur unterrichten! Was für eine seltsame Sache! Warum Stunden damit verbringen – und das seit so vielen Jahren! – die Wut der Hermione zu erläutern, die Durchtriebenheit des Valmont, die Tugend von Fabrice del Dongeo? Wozu denn den Satzbruch (Anakoluth) vom 5. Vers kommentieren und die Isotopie (Einheitlichkeit von Rede und Realitätsebene) des Todes im Sonett von Du Bellay…? Was soll das alles, wenn die Menschen sich auf den verschiedenen Kontinenten umbringen, manchmal gar nicht in weit entfernt von uns? Wenn die Wirtschaftswissenschaftler im Ernst davon reden, wieder „kleine Jobs“ zu schaffen, um unserer Jugend Arbeit zu geben; wenn die Unterhaltungsprogramme der Nation von Gauklern organisiert sind, die allergisch auf das Wort Kultur reagieren? Ich spüre, wie Sie entmutigt und ernüchtert sind. Sie denken an Ihr langes und erfolgreiches Universitätsstudium, an die mühsam erkämpften anspruchsvollen Diplome, an die unzähligen Stunden des Lesens, der Forschung, der Vorbereitungen und der Korrekturen, um wohin zu gelangen? Zu diesen Wortgefechten, die im besten Falle von einem höflichen aber doch immer undankbaren Publikum mitverfolgt werden; Publikum, das sowieso davon überzeugt ist, dass die Realität sich jenseits der geschützten Sphäre eines Schulzimmers beginnt. Sie ertappen sich dann beim Gedanken, dass Sie besser daran getan hätten, Ihren Gutshof in der Haute-Loire zu renovieren, oder sich auf ihrem Segelboot der Küstenschifffahrt zwischen den Liparischen Inseln zu widmen. Ich würde Sie gerne überzeugen, dass Sie falsch liegen, wenn Sie sich diesen pessimistischen Gedanken hingeben. In Ihren innersten Gedanken haben Sie auch nie aufgehört, daran zu glauben – das war eine Überlebensfrage! – dass Ihre Aufgabe eine Wesentliche ist, und dass Sie einen bewundernswerten Beruf ausüben. Sie haben die Sendung, das Denken junger Menschen zu formen, sie den Subtilitäten der Gedanken und der Kultur zu öffnen. In diesen Zeiten, in denen alles berechnet wird und Mittelmäßigkeit Gesetz ist, sind Sie die letzten Spender der selbstlosen und uneigennützigen Schönheit. Und diese unschätzbar große Aufgabe dürfen Sie fast ohne Einschränkungen nach Ihrem eigenen Gutdünken organisieren. Freilich gibt es Schranken: Die Programme, die Prüfungen, die Auswahlverfahren; doch wirken diese eher stimulierend, als dass Sie ein Hindernis sind: Sie nähren Ihren Appetit, rufen bei Ihnen Initiativen hervor, erneuern Ihre Entscheidungswahlen, ohne dass irgendjemand Sie da beeinflusst. Und Sie bleiben Referenz, Erwecker und Garant der Wissenswerte. Was wiegt schon die Ungemütlichkeit des Klassenzimmers, die laute Langeweile einiger zaudernden Schüler oder die Sklavenarbeit in Form der immer wiederkehrenden Korrekturen im Vergleich mit der Neugier des Kindes, mit dem Vibrieren seiner Intelligenz durch das Glück, das es empfindet, die großen Autoren kennenzulernen und im Vergleich mit dem Privileg, das Sie haben, Ihre Arbeit selbst gestalten zu können.“

Yves Stalloni (1944)
Literaturprofessor, Schriftsteller


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